Die letzten sieben Jahre meines Lebens habe ich in der Dortmunder Nordstadt gewohnt. Die Nordstadt hat ja nicht den allerbesten Ruf. Als ich damals nach dem Studium dort in eine Berufstätigen-WG
zog, dachte ich noch: Alles massiv übertrieben! Dass am Gerede doch ein bisschen was dran war, dämmerte mir, als mir in der ersten Woche der Fahrer meines Taxis (das ich auf Anraten meiner
MitbewohnerInnen abends vom Hauptbahnhof aus zu uns genommen hatte) sagte: "Warum um Himmels Willen sind Sie denn hierhin gezogen? Sie wirken doch ganz vernünftig…"
Ab diesem Punkt machte ich mir mehr Gedanken, kaufte mir ein akustisches Alarmsignal für den Notfall (habe ich nie gebraucht) und hielt mich an eine Strategie, die ich in meiner gesamten
Nordstadt-Zeit gefahren bin und mir bis heute beibehalten habe: Konsequent an das Gute im Menschen zu glauben.
An dieser Stelle verdrehen jetzt mit Sicherheit einige LeserInnen die Augen und denken sich: Mädchen, was bist du naiv! Dabei habe ich gute Gründe für diese Strategie. Körpersprachlich
drücken wir immer in gewisser Weise aus, was wir über den anderen denken – und provozieren damit gegebenenfalls sehr negative Reaktionen, ohne uns darüber bewusst zu sein. Wenn ich
anderen Menschen begegne, bin ich immer freundlich: Ich grüße, ich nicke zu, ich schaffe Verbindung. Oft bin ich selbst überrascht, wie schnell sich dadurch Situationen, die zunächst leicht
bedrohlich wirken, verändern. Der grimmige Blick verfliegt, jugendliche "Gangster" grüßen freundlich zurück.
An dieser Stelle ist es wichtig zu sagen, dass es natürlich auch viel schreckliches Verhalten in der Welt gibt. Hier sollten wir konsequent unterscheiden: Das Verhalten eines Menschen
kann furchtbar sein – das heißt aber nicht, dass der Mensch in seinem Kern böse oder schlecht ist. Marshall Rosenberg, der Entwickler der Gewaltfreien Kommunikation, erklärt dies mit der
Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Strategie. Das Bedürfnis ist immer relevant und richtig – aber die Strategie, also die eigentliche Handlung, die der Mensch ausführt, um das
Bedürfnis zu befriedigen, kann total daneben sein und andere Menschen verletzen.
Auch über den Begriff Glaube sollte ich noch ein paar Worte verlieren. Dieser Begriff aus dem religiösen Kontext scheint hier nicht so recht zu passen. Wenn wir aber auf die Wurzel des
Wortes schauen, kommen wir zu der Bedeutung "Hingabe des Vertrauens an eine Person" – und das passt in diesem Kontext ziemlich gut. Vom Guten im Menschen auszugehen, bedeutet, dem oder
der anderen einen Vertrauensvorschuss zu schenken. Und ob ich diesen Vertrauensvorschuss schenken kann, hängt stark mit meiner eigenen Geschichte und Erfahrung zusammen – und mit dem
Bild, das ich insgesamt von den Menschen habe.
Der Glaube an das Gute im Menschen hat gerade auch eine Renaissance in den Unternehmen – hier bekannt unter dem Begriff der Theorie Y. Der Ansatz geht auf den Management-Forscher
Douglas McGregor zurück, der in seinem 1960 erschienen Buch The Human Side of Enterprise zwei unterschiedliche Menschenbilder erläutert: Die Theorie X und die Theorie Y. Je nachdem,
welchem Menschenbild ich folge, hat dies Auswirkungen auf mein Verhalten, meine Entscheidungen und meinen Umgang mit anderen Menschen. Die Theorie Y besagt, dass der Mensch aus sich
selbst heraus engagiert ist. Laut der Theorie Y streben Menschen nach Selbstentfaltung. Sie sind intrinsisch motiviert – sie wollen leisten. Die Theorie Y besagt auch, dass Menschen in
der Lage sind, sich selbst zu führen, dass sie Verantwortung übernehmen und ihr eigenes Potenzial entfalten möchten. Der Mensch der Theorie Y ist kreativ und einfallsreich – und Arbeit kann ihm
sogar Spaß machen.
Ihr Gegenpart ist die Theorie X – das aktuell vorherrschende Menschenbild, das die meisten Menschen in ihrem Kopf haben. Spannend finde ich, dass Menschen sich selbst fast immer mit dem Blick der
Theorie Y sehen – den anderen jedoch fast immer mit dem Blick der Theorie X. Die Theorie X sieht den Menschen als faul, lustlos und wenig engagiert an. Der Mensch dieses
Menschenbildes muss extrinsisch motiviert werden, um überhaupt irgendetwas zu leisten. Arbeit finden Menschen der Theorie X doof und werden alles daransetzen, sie so gut wie möglich zu vermeiden.
Außerdem vermeidet der Mensch der Theorie X die Übernahme von Verantwortung und muss aufs Genaueste angeleitet und kontrolliert werden. Kaum erwähnenswert: kreativ sind die Theorie-X-Menschen
auch nicht – außer, wenn es darum geht, wie sie möglichst schnell wieder nach Hause aufs Sofa kommen.
Wenn Organisationen sich in Richtung Selbstorganisation und zukunftsfähige Formen von Zusammenarbeit aufmachen, lohnt es sich, zunächst ausführlich über das eigene Menschenbild zu
sprechen. Und genau zuzuhören: Wie sehen die Führungskräfte ihre MitarbeiterInnen? Wie sehen sich die MitarbeiterInnen
untereinander? Wie viel Vertrauensvorschuss kann jeder geben? Wenn ich tief in einem Menschenbild der Theorie X verhaftet bin, wird es mir sehr schwerfallen, Kontrolle abzugeben und meinen
MitarbeiterInnen zuzutrauen, dass sie die Arbeit auch ohne meine Anleitung schaffen können. Hilfe kann an dieser Stelle ein Coaching
bringen, in dem tiefer in die eigene Geschichte und auf die Entstehung des eigenen Menschenbildes geschaut wird. Oder auch das klassische Learning by doing in kleinen Schritten: Einfach mal einen
Tag die Y-Brille aufsetzen und austesten, welche Regungen ich in mir spüre, welche Regungen ich in den anderen sehe und abwarten, was sich verändert. Wer Macht in der Organisation
umverteilen möchte, braucht Vertrauen. Und dieses Vertrauen hängt immens damit zusammen, welches innere Bild ich von den Menschen um mich herum habe.
Und ich schließe diesen Artikel mit einem der zentralen Sätze, den ich aus meiner Weiterbildung zur Psychosozialen Beraterin mitgenommen habe: Jeder Mensch hat eine liebenswerte Seite.
Jeder.
(geschrieben im Juni 2020)
Das Original: Douglas McGregor: The Human Side of Enterprise
Ein sehr gutes Buch zur Deeskalation mit vielen praktischen Tipps, das ich in meiner Nordstadt-Zeit gelesen habe: Tim Bärsch & Marian Rohde: Kommunikative Deeskalation. Praxisleitfaden zum Umgang mit aggressiven Personen im privaten und beruflichen Bereich
Für zukunftsorientierte und -interessierte UnternehmerInnen: Niels Pfläging: Organisation für Komplexität. Wie Arbeit wieder lebendig wird – und Höchstleistung entsteht
Ein weiterer Blick in die Gewaltfreie Kommunikation: Karoline Ida Bitschnau: Die Sprache der Giraffen. Zur Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Wie die GFK Ihr Leben verändern kann
Anbei findest du zwei Merkbilder zum Download auf dein Smartphone, auf denen die selbsterfüllenden Kreisläufe der Theorie X und Y visualisiert sind.
Vielleicht helfen sie dir, mit deiner Umgebung stärker über das eigene Menschenbild in den Austausch zu kommen.
Wer mit seiner Organisation darüber nachdenkt, sich in Richtung neue Formen der Zusammenarbeit aufzumachen, möge sich gerne bei mir melden. In einem kostenlosen Vorgespräch können wir klären, welche Möglichkeiten es gibt – und blicken in diesem Zusammenhang mit Sicherheit auch auf das Menschenbild in der eigenen Organisation.