Draußen nieselt der Regen vor sich hin, es wird kälter, früher dunkel und einer der unbeliebtesten Monate steht vor der Tür: November. Diese Zeit ist in der Natur die traditionelle Zeit des Innehaltens, der Rückbesinnung und der Innenschau. Die Natur zieht ihre Kräfte in ihr Inneres zurück und speichert sie über den Winter, um sie im Frühling wieder neu in die Welt wachsen zu lassen. In der Theorie ist das Innehalten in unserer Zeit hoch im Kurs. Beinahe jede und jeder weiß, dass Meditationen eine gute Sache sind, dass ein zwischenzeitlicher Stopp des eigenen Lebens und eine Rückbesinnung auf das, was einem wirklich wichtig ist, in vielen Situationen helfen kann – und trotzdem halten wir eher zu wenig als zu viel inne.
Ich habe den November nie gemocht. In der Reihe der Monate war er immer mein absoluter Hassmonat. Seit ein paar Jahren gehe ich jedoch zu einer Frauengruppe im Wald (das unterdrückte Grinsen
einiger Leser an dieser Stelle kommentiere ich jetzt einfach mal mit einem: Es ist großartig! ;-D ), welche die Jahreskreisfeste feiert und an einzelnen Tagen innerhalb des Jahres innehält, um
sich auf das Thema zu besinnen, das zu diesem Zeitpunkt des Jahres ansteht. Im November wird traditionell das Ahninnenfest gefeiert – also das Fest, bei dem man sich an seine Wurzeln, die
Säulen auf denen man steht, eben an seine AhnInnen zurückerinnert. Seitdem blicke ich in den Nieselregen mit anderen Gefühlen und nutze die dunklen Monate bewusst, um innezuhalten und
mich zu besinnen.
Das Innehalten ist auch im Coaching eins der zentralen, wenn nicht sogar das wichtigste Element. In meiner Ausbildung lief es unter dem Stichwort Verlangsamung. Verlangsamen
bedeutet, dass ich im Hier und Jetzt arbeite. Dass ich den Redefluss des Coachees bisweilen bewusst unterbreche, um zu schauen, was jetzt gerade da ist – welche körperlichen Empfindungen, Gefühle
und Assoziationen in diesem Moment auftauchen. Dabei ist Verlangsamen immer dann angebracht, wenn ich den Eindruck habe, dass hier ein wichtiger Punkt liegt, vielleicht sogar der Kern
des Problems, den wir uns ganz langsam, bedächtig und von allen Seiten näher betrachten sollten. Damit arbeiten wir gegen das, was unser menschlicher Geist an dieser Stelle eigentlich
viel lieber will: nämlich schneller machen! Da wo’s wehtut oder wo wir aufgerufen sind, etwas zu verändern, gucken wir nämlich nicht so gerne hin, sondern übergehen lieber, lenken uns ab
und machen schnell weiter – und dann ist der Punkt im Strom der Zeit auch schon wieder vergangen.
Hier liegt eine der Künste und der zentralen Aufgaben des Coaches: Nicht weiter gemeinsam mit dem Coachee mitzulaufen, sondern innezuhalten. Das Tempo bewusst rauszunehmen.
Vielleicht die Augen zu schließen, das zentrale Wort oder den zentralen Satz noch einmal zu wiederholen und zu beobachten, was im Coachee und auch in mir passiert – und dann die Wahrnehmung
dieser aufsteigenden Gefühle und Emotionen ebenfalls wieder zu verlangsamen. Das ist im ersten Moment ungewöhnlich und macht vielleicht auch ein bisschen Angst. Aber der Erkenntnisgewinn ist
enorm.
Auch in der Arbeit mit Gruppen traue ich mich immer mehr innezuhalten und zu verlangsamen. Hier ist das Innehalten wahrscheinlich noch ungewöhnlicher als in der Arbeit zu zweit im Coaching.
Das Innehalten im Training ist in der Suggestopädie ein klassisches Element, da eine der Hauptthesen dieser
Lehrmethodik darin besteht, dass der Mensch optimal durch einen Wechsel von aktiven und passiven Phasen lernt. Und diese passiven Phasen bedeuten immer: Innehalten, entspannen,
reflektieren. Angeleitete Meditationen und Entspannungen (in der Suggestopädie beispielsweise Centering [am Anfang des Seminars] und Integration [am Ende des Seminars] genannt)
sorgen dafür, dass die TeilnehmerInnen Zeit haben, das Gelernte sacken zu lassen sowie selbst erst einmal im Raum anzukommen und ihren Geist
bereit dafür zu machen, was hier in den nächsten Stunden passiert.
In der offeneren Arbeit in Workshops wird das Innehalten zur Technik par excellence: Der Möglichkeit, die unausgesprochenen und unterdrückten Aspekte eines Themas in den öffentlichen Raum zu
holen. Das ist anspruchsvoll für alle Beteiligten und auch für mich als Moderatorin. Denn beim gemeinsamen Innehalten in der Gruppe tauchen plötzlich viele Empfindungen, Gefühle und Assoziationen
auf – deren Aussprechen im öffentlichen Raum vor anderen ganz andere Grenzen überwinden muss, als dies in einem Vier-Augen-Gespräch der Fall ist. Das Innehalten kann dabei Klarheit
bringen, es sortiert, vertieft und verbindet Gedanken neu. Es hilft zum Kern der Probleme vorzudringen, diese an die Oberfläche zu holen und Raum zu schaffen, damit Neues entstehen kann.
Langsamer werden statt schneller, stehen bleiben und innezuhalten statt weiterzulaufen, das ist die Herausforderung, der wir uns alle stellen müssen, wenn wir unsere Themen und Probleme wirklich
angehen wollen.
In diesem Sinne wünsche ich dir, liebe Leserin und lieber Leser, eine schöne dunkle Jahreszeit mit vielen Momenten des Innehaltens, der Verlangsamung und des Reflektierens. Ein lieber
Gruß an den Nieselregeln!
(geschrieben im Oktober 2020)
Die niedergeschriebenen Ursprünge meines Coaching-Handwerks mit vielen Informationen zum Thema Verlangsamung: Rainer Molzahn: Transformatives Coaching. Ein Weg zu Freiheit und Kreativität, zu Wirksamkeit und Verantwortung
Für alle, die jetzt die Chance ergreifen möchten, mit dem Meditieren anzufangen: Eine Achtsamkeitsmeditation aus dem MBSR-Programm (Mindfulness-based stress reduction)
Und zum Abschluss für alle, die gerne ihre Fähigkeit zu verlangsamen im Gruppenkontext weiter ausbauen und trainieren möchten: Die Weiterbildung zur MoMo-ModeratorIn für eine innovative öffentliche Gesprächskultur
Wer die dunkle Jahreszeit gerne für Themen nutzen möchte, die bei ihm oder ihr schon länger auf dem Tisch liegen, kann sich gerne bei mir für ein Coaching melden. Hier halten wir gemeinsam inne, sortieren die Wahrnehmungen und arbeiten heraus, worum es wirklich geht und wozu du aufgerufen bist.