Vom Zuhören

Oder: Die Macht einer wenig wertgeschätzten Fähigkeit

Wenn ich in meinen Trainings mit leisen, eher introvertierten Menschen auf ihre persönlichen Stärken und Talente zu sprechen komme, dann geht eine Fähigkeit garantiert immer unter: das Zuhören. Diese stille Schwester des Sprechens und Präsentierens, des Diskutierens und Erläuterns steht selten im Fokus – und wird erst recht nicht wertgeschätzt oder gar als Fähigkeit bewundert. Zuhören – das ist etwas, was man halt macht, gehört ja dazu. Und irgendwann ist man ja Gott sei Dank auch selbst wieder dran mit Sprechen: Das Zuhören als notwendiges Übel, damit ich selbst bald wieder meinen Teil der Geschichte erzählen, meine Ansichten, Ideen und großartigen Ratschläge kundtun kann.

 

Wirklich gute Zuhörer sind leider nicht so oft zu finden. Das ist auch kein Wunder. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, gab es keine guten Noten für aufmerksames, verstehendes und konzentriertes Zuhören, sondern für mündliche Beteiligung. Die Folge war, dass unser Klassengespräch dadurch eher in Feste der Selbstdarstellung und inhaltlichen Wiederholung ausuferte, als in eine konstruktive Diskussion zum Thema – mit mündlichen Noten konnte man ja immer noch einiges rausreißen.

Das aktive Zuhören ist eine der zentralen Techniken in der Beratung, im Coaching und in der Führung. Richtig gehört: Gerade als Führungskraft halte ich es für absolut zentral, dass man eine gute ZuhörerIn ist. Nur so kann ich mich dem annähern, was meine MitarbeiterInnen wirklich brauchen. Was sie vielleicht versuchen zu sagen, aber doch nicht richtig in Worte fassen können, weil sie sich vielleicht fürchten oder es selbst noch nicht genau wissen. Wirklich aktiv Zuhören zu können ist eine Kunst, die man nicht beherrscht, wenn man ab und zu mal aha und hmm hmm macht.

Aktives Zuhören bedeutet, sich selbst, die eigenen Gedanken, Geschichten und Bilder im Kopf zurückzuhalten und sich voll und ganz auf die andere Person zu konzentrieren. Wer das probiert merkt schnell, wie anstrengend das ist. Aktives Zuhören bedeutet, meine eigenen Probleme und Ideen zurückzustellen und stattdessen voll beim anderen, in seiner Geschichte, bei seinen Problemen und seinen Ideen zu sein. Das kostet Kraft und Konzentration.

Gerade in schwierigen und krisenhaften Zeiten sind gute ZuhörerInnen von unschätzbarem Wert. Sie erschlagen einen nicht mit eigenen Geschichten und guten Ratschlägen, was man denn doch stattdessen mal versuchen sollte, sondern sind einfach da. Der Sprecher hat Raum, um seine Gedanken auszusprechen und zu sortieren, seine Gefühle wahrzunehmen und zu ordnen. Das geht im Gespräch mit einem anderen oft deutlich besser, als wenn man nur für sich alleine dahingrübelt. Heinrich von Kleist hatte diese Erkenntnis übrigens bereits um 1800: Er erkannte, dass seine Gedanken sich ordnen und er zu neuen Erkenntnissen kommt, wenn er sie seiner Schwester erzählt. Die offensichtlich fähige Zuhörerin in der Geschichte hat natürlich keinen Ruhm geerntet – der Klassiker.

Daher liebe Leserin und lieber Leser: Solltest du zu denen gehören, die wie Michael Endes Momo ein Talent fürs wirklich gute Zuhören haben – sei stolz auf dich! Und nutze es: Denn gerade in der heutigen Zeit braucht die Welt gute Zuhörerinnen und Zuhörer mehr denn je.

(geschrieben im Mai 2020)

Zum Weiterlesen:

Für Geschichtsinteressierte: Heinrich von Kleists erkenntnisreicher Artikel: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden


Lernen von der Meisterin des Zuhörens: Momo von Michael Ende


Der Vater des aktiven Zuhörens: Carl R. Rogers: Die nicht-direktive Beratung


Zum Mitnehmen und Ausprobieren:

Anbei findest du zwei Merkbilder zum Download auf dein Smartphone, auf denen die wichtigsten Punkte zum Aktiven Zuhören zusammengefasst sind.

 

Zum Ausprobieren empfehle ich deine familiäre Umgebung (PartnerIn, Kinder, Schwiegereltern...): In der nächsten Diskussion einfach mal nicht widersprechen, sondern aktiv zuhören! (Du sagst..., du brauchst...)



Kleiner Werbeblock am Rande

Wenn du auch ein leiser Mensch bist und Interesse daran hast, deine Fähigkeit zum Zuhören weiter auszubauen – oder auch, wenn du noch nicht so gut zuhören kannst, aber diese Fähigkeit gerne weiter verbessern möchtest, schreib mir einfach eine Nachricht. Aktuell liegen alle meine Seminare auf Eis – Ich sage dir aber gerne Bescheid, sobald sie wieder angeboten werden.