Von Sprache

Oder: Menschen sind nicht – sie verhalten sich

Mit Corona hat diese Kolumne angefangen und auch für diesen Artikel ist Covid-19 der Auslöser. So wie es aussieht und wie von vielen erwartet, starten wir gerade in die nächste Runde der Pandemie mit immer weiter steigenden Fallzahlen und verstärkten Einschränkungen. Einen Satz höre ich in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der Pandemie immer wieder und über diesen Satz möchte ich heute gerne schreiben. Denn an ihm lässt sich in schönster Weise erläutern, wie sehr wir in unserer alltäglichen Sprache dazu neigen, nicht sauber zu trennen zwischen dem, was wir beobachten, wie wir etwas bewerten und einordnen und was wir uns tatsächlich wünschen. Großer Trommelwirbel – ich rede von dem Satz und der Antwort: "Ich bin da nicht so."


"Ich bin da nicht so" geht in meiner Umgebung häufig mit einer Handlung des Näherkommens einher. Darf ich dich umarmen? – Klar, ich bin da nicht so. Sollen wir uns bei mir zu Hause treffen? – Kein Problem, ich bin da nicht so. Ist der Abstand so in Ordnung? – Also für mich egal, ich bin da nicht so. Jedes Mal, wenn ich diesen Satz höre, bekomme ich ein schlechtes Bauchgefühl. Dieses Gefühl setzt sich zusammen aus einem Teil Scham (Okay, heißt das, wenn ich um Abstand bitte, dass ich so bin?), einer Prise Ärger (Den aktuell nötigen Abstand einhalten hat doch nichts mit deinen Charaktereigenschaften zu tun), einer Portion Sorge (Wenn du da nicht so bist, dann kommst du jetzt also jedem anderen auch ohne weitere Gedanken näher) und einem Teil Mitgefühl (Wie gehen wir mit unserem Bedürfnis nach Nähe und Berührung in dieser Pandemie um?).

Wenn ich den Satz "Ich bin da nicht so" ein wenig seziere, fällt mir als erstes auf, dass er eine situative Verhaltensweise mit einer feststehenden Charaktereigenschaft vermischt. Was die Person, die diesen Satz ausspricht, eigentlich sagen möchte ist: Ich nehme diese Pandemie mit ihren gebotenen Abstandsregeln wahr, aber mir ist mein Bedürfnis nach Nähe und Berührung dir gegenüber wichtiger, als die Möglichkeit, dass du oder ich uns anstecken. Vielleicht auch: Ich halte die aktuellen Regeln für unnötig oder übertrieben. Durch die Formulierung "Ich bin da nicht so" wird diese situative Verhaltensweise und persönliche Bewertung der Situation aber zu einer Charaktereigenschaft erhoben. So bin ich – fest und unverrückbar.

Diese Vermischung von Eigenschaften und Verhaltensweisen findet in unserer alltäglichen Sprache häufig statt. Und sie ist problematisch, denn sie vermischt Beobachtungen und Bewertungen und sorgt damit dafür, dass Veränderungen des eigenen Verhaltens unmöglich erscheinen. Sobald ich etwas "bin" ist das ziemlich fest, Identitätsebene – da wird nur wenig dran gerüttelt. Wenn mir jemand sagt: "Du bist faul", dann hat er mir eine stabile Eigenschaft zugeschrieben, mich bewertet. Die Beobachtungen, die ihn zu dieser Einordnung geführt haben (z.B. "Du hast den Müll zum zweiten Mal nicht rausgetragen") werden hier verschwiegen – das Fachwort für diesen Vorgang ist getilgt – und machen es schwer, nachvollziehen zu können, woher die eigentliche Bewertung kam.

Dieses Wörtchen "bin", das "sein" sorgt außerdem dafür, dass wir übersehen, dass ich mich in jedem Moment meines Lebens anders verhalten kann. Es gibt nur sehr wenige Bereiche, wo wir wirklich "sind" (Ich bin zum Beispiel 33 Jahre alt und aus Hameln, daran gibt es nichts zu rütteln). Aber was meine charakterlichen Eigenschaften angeht, kann ich mich jetzt entscheiden, mich völlig anders zu verhalten, als ich es in den letzten Minuten getan habe. Das machen die wenigsten (Gewohnheiten und so…), aber die Möglichkeit besteht. Daher plädiere ich sehr dafür, in unserer Sprache mit diesem Wörtchen "sein" sehr sorgsam umzugehen. Es schränkt uns selbst ein – und auch andere.

Was mache ich nun mit dem Satz "Ich bin da nicht so" in dieser Pandemie? Auch ich habe ein Bedürfnis nach Nähe und möchte den Menschen in meiner Umgebung zeigen, dass sie mir wichtig sind. Für mich funktioniert dieses Zeigen auch, wenn ich Abstand halte und Berührungen vermeide – dann zum Beispiel über Blicke, über Gesten, über liebevolle Worte. Alle "Ich bin da nicht so"-Sager bitte ich darum, diesen Satz zu überdenken und zu versuchen auszusprechen, was sie eigentlich sagen möchten – was sie sich wünschen und worum sie den anderen bitten: Sehnst du dich nach einer Umarmung von mir? Wünschst du dir, dass wir wieder mehr Zeit miteinander verbringen? Ist es dir wichtig, mir in diesem Moment die Hand zu reichen? Damit landen wir auf der Verhaltensebene und können gemeinsam überlegen, welches Verhalten uns jetzt angemessen scheint. Damit wir weiter gut durch diese Pandemie kommen – mit Blick auf unsere menschlichen Bedürfnisse und der gemeinsamen Sorge füreinander.

(geschrieben im Oktober 2020)

Zum Weiterlesen:

Wer Näheres erfahren möchte zum Thema der Trennung von Beobachtungen und Bewertungen sei wieder einmal auf das wunderbare Grundlagenwerk der Gewaltfreien Kommunikation verwiesen: Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen


Das Buch, das mich dazu gebracht hat, zum ersten Mal über das Wort "Sein" näher nachzudenken: Sonja Radatz: Beratung ohne Ratschlag. Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen


Ein Blick aus der Coaching-Perspektive auf das Thema Sprache – als eins von vielen weiteren relevanten Themen. Das neue Buch von Rainer Molzahn: Transformatives Coaching. Ein Weg zu Freiheit und Kreativität, zu Wirksamkeit und Verantwortung



Kleiner Werbeblock am Rande

Sprache ist mächtig. Im Coaching ist sie eins der mächtigsten Instrumente, mit dem wir arbeiten. Falls du etwas Unterstützung beim Sortieren deiner eigenen Bewertungen, Bezeichnungen und Einordnungen brauchst, stehe ich dir gerne mit gespitzten Ohren und sprachlichen Seziermessern zur Seite.